„Bürokratie ist die Herrschaft der Niemande und aus ebendiesem Grund vielleicht die am wenigsten menschliche und grausamste Herrschaftsform.“ 1
Dieser Satz drängte sich schlagartig wieder in mein Bewusstsein, als ich vor wenigen Tagen eine Arztpraxis verlies. Ohne Maske ist keine Behandlung möglich. Das Praxisteam bot mir eine Maske an, ich lehnte ab. Es gibt keine plausible, wissenschaftlich fundierte Erklärung für das Maskentragen in Praxen und Krankenhäusern. Warum bestehen diese Menschen also darauf? Angst vor Corona ist nicht mehr der Antriebsmotor. Die Begründung des Verhaltens von Seiten der Praxis ist aber die Bürokratie. – Weil es Gesetz ist! – Sie berufen sich auf das Gesetz und entledigen sich somit jeder Verantwortung und auch der Pflicht selbst zu denken. Sie hinterfragen nicht, ob das Gesetz sinnvoll ist oder nicht, sondern setzen es blind um. Das ist gefährlich. Wir müssen uns nur vor Augen führen, wozu blinde Gesetzestreue und Vorschriftsbefolgung geführt hat. Der Aufsatz von Arendt bezieht sich auf Mittäter des Naziregimes und ihre Abwälzung der Verantwortung auf das System. „Nicht ich, sondern das System, in dem ich ein Rädchen war, hat es getan“.2
Natürlich sind Gesetze wichtig und natürlich müssen wir uns an Gesetze halten. Ohne Gesetze und der zugehörigen Bürokratie kann kein Staat funktionieren. Aber das bedeutet nicht, dass wir blind alles befolgen, nur weil es Gesetz ist. Wenn ein Gesetz keinen sinnvollen Nutzen hat, darf es nicht Gesetz sein. Und wenn die Gesetzgeber das Gesetz nicht ändern oder abschaffen, muss der selbstdenkende Souverän in der Demokratie den Staat auf diesen Missstand hinweisen und die Änderung oder Aufhebung fordern.
Nein, ich möchte das Verhalten, die strenge Gesetzestreue und Vorschriftsbefolgung der Mitarbeiter in der Praxis nicht mit dem Naziregime und ihre Mittäter vergleichen. Was es aber zeigt, ist, alles ist möglich. Es braucht eben nur Menschen, wie diese in der Praxis. Wer mitmacht, stimmt zu. Tatsächlich endet die Maskenpflicht endlich Anfang März 2023. Nun kann man sagen, es sind doch nur noch wenige Tage. Ja, das stimmt und das ist gut so. Ich verstehe aber bis heute nicht, warum so viele Menschen mitgemacht haben und offensichtlich auch immer noch mitmachen. Rückblickend waren zu viele Menschen so, wie diese jetzt noch in der Praxis in Berlin. Und zu viele sagen nun, wir haben nur die Vorgaben, die Gesetze befolgt – sinnvoll fanden wir sie auch nicht. Wir können nichts dafür. Das war eben so.
Dafür bringe ich kein Verständnis auf. Es zeigt mir, alles ist möglich. Und das ist gefährlich.
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1 Arendt, Hannah: Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur?, Hg. von Marie Luise Knott, München 2018, S. 28.
2 Ebd.
Das grundgesetzliche Verständnis der Menschenwürde haben wir in weiten Teilen Kant zu verdanken. Kants Grundgedanke, dass jeder Mensch der Moralität fähig ist und damit auch zur Freiheit, die ihm wiederum die Würde verleiht. Die Freiheit hat der Mensch, weil er mit Vernunft frei wählen kann, wie er handelt. Natürlich kann er auch wider seiner Moral handeln. In dem Fall handelt er unmoralisch. Bestenfalls handelt er freiwillig nach seinen moralischen Wertvorstellungen, ohne die Würde der Mitmenschen zu verletzen. Vereinfacht und nicht von Kant: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Wird ein Mensch gezwungen, so handelt er nicht frei. Ihm wird die Würde genommen.
Die Corona-Pandemie hat unsere Gesellschaft in Geimpfte und Ungeimpfte gespalten. Den Ungeimpften wird laut mangelnde Moral und fehlende Solidarität vorgeworfen. So schreibt die evangelische Kirche in Mitteldeutschland am 7.2.22 auf ihrer Webseite: „Für uns ist das Impfen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie Ausdruck aktiver christlicher Nächstenliebe. Wir danken ausdrücklich allen, denen auf diese Weise das Wohlergehen anderer am Herzen liegt, die sich selbst haben impfen lassen […]“.
Die evangelische Kirche spricht den Ungeimpften damit die Nächstenliebe ab. Das Wohlergehen der Mitmenschen interessiert die Ungeimpften nach Sicht der evangelische Kirche nicht. Ist oder war das wirklich so? Nimmt man die Perspektive der Ungeimpften ein und hört sich ihre Sichtweise an, so wird deutlich, dass sie im Sinne ihrer Moral handeln und damit Nächstenliebe zum Ausdruck bringen. Sie lassen sich nicht impfen, weil sie den Impfstoff mit Notzulassung für nicht hinreichend geprüft befinden. Ihre Risikoabwägung spricht gegen die Impfung, weil sie diese für unsicher oder auch unwirksam halten. Wenn sie andere davon überzeugen wollen, auf die Impfung zu verzichten, so tun sie das aus Nächstenliebe im Sinne ihrer Moralvorstellung, weil ihnen die Gesundheit ihrer Mitmenschen am Herzen liegt. Sie handeln also nicht anders als die evangelische Kirche selbst oder jene, die sich aus Überzeugung impfen lassen. Hier ist ein Unrecht geschehen. Erschreckend, wie schnell es im großen Stil geschehen kann.
Hannah Arendt: Wir Flüchtlinge. Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, 2016, 64 Seiten. Mit einem Essay von Thomas Meyer [Was bedeutet das alles?]
1943 veröffentliche Arendt den Essay „We refugees“ im Menorah Journal. In diesem thematisiert sie die Situation von Flüchtlingen und verdeutlicht das Selbstbewusstsein und Selbstverständnis von Menschen mit Fluchterfahrungen. Der Text wurde 1986 ins Deutsche übersetzt.
Hannah Arendt (1906-1975) studierte Philosophie bei Heidegger, Jaspers und Husserl, emigrierte 1933 nach Frankreich und floh 1941 in die USA. Von 1937 bis 1951 war sie staatenlos.
Dr. Thomas Meyer ist Professor am Lehrstuhl für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Hannah Arendt setzt in ihrem Essay mit den Worten an: „Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns ‚Flüchtlinge‘ nennt. Wir selbst bezeichnen uns als ‚Neuankömmlinge‘ oder als ‚Einwanderer‘.“ Arendt verweist damit zum einen auf den Paradigmenwechsel in Bezug auf den Begriff des Flüchtlings, der sich im Zuge des Nationalsozialismus vollzog und zum anderen zeigt es auch den Wunsch auf, ein integrierter Mensch zu sein. Die Juden waren nicht aufgrund von politischen Anschauungen oder Taten gezwungen das Land zu verlassen, sondern aufgrund ihrer völkischen Nicht-Zugehörigkeit, dem sie mit einem notwendigen Optimismus begegnen. Sie schreibt über den Optimismus, den Flüchtlinge brauchen, um eine neue Existenz aufzubauen. Sie nennt ihn einen „ungesunden Optimismus“, zu dem viel gehört: die Akzeptanz der Tatsache viel verloren zu haben, die Fähigkeit des Vergessens, der Vertrauensverlust und vor allem ein staatenloser Flüchtling ohne Rechte zu sein. „Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. […] Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktion, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle.“ Und so kommt es, dass der Optimismus „Tür an Tür mit der Verzweiflung wohnt“.
Thomas Meyers Essay „Es bedeutet den Zusammenbruch unserer Welt“ greift die Gedanken von Arendt auf und setzt sie in Bezug auf die heutige Situation. Auch wenn er sich konkret auf die Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan bezieht, ist sein Essay nicht weniger relevant für die Flüchtlinge aus der Ukraine oder aus dem Jemen.
Dieses kleine Buch gibt sehr viele Denkanregungen und sollte unbedingt in die Lehrpläne unserer Schulen aufgenommen werden.
Die Zahl der Flüchtlinge hat sich seit 1943 weiter erhöht. Der Text ist also schon 79 Jahre alt und hat an Aktualität nichts verloren. Ein jeder bekommt hier die Chance zu reflektieren, wie wir Menschen miteinander umgehen. Es lässt sich ohne Zweifel sagen: Das Buch hat es in sich.
In der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ beschäftigt sich Kant ausschließlich mit moralphilosophischen Fragen. Kants Grundgedanke ist, dass jeder Mensch der Moralität fähig ist und damit auch zur Freiheit, die ihm Würde verleiht. In der „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ möchte er das moralische Bewusstsein explizieren, bzw. philosophisch analysieren.
Erstmalig gibt es damit eine Ethik a priori und der Begriff der Würde gewinnt neue Bedeutung im Vergleich zu den vorherigen Ethiken. Seine Überlegungen haben die Diskussion zum Thema der Moral seit der Aufklärung wesentlich geprägt. Auch das grundgesetzliche Verständnis der Menschenwürde hat in weiten Teilen die Züge der kantischen Auffassung. ‚Würde’ bezeichnet den absoluten Wert des Menschen, der niemals austauschbar ist.
Aus gegebenen Anlass ist dieser Tage die Würde des Menschen und die scheinbar daran gekoppelten Menschenrechte verstärkt in unser Blickfeld gerückt.
Für mich ist hier besonders das Impfthema um Corona interessant, denn wenn ich die Argumentationen beider Seiten (leider muss das ja schon so ausgedrückt werden) betrachte, geht es um Moral und die Achtung der Würde aller Menschen. Die Wissenschaft ist natürlich nicht zu vernachlässigen, allerdings stehen sich auch hier Fronten gegenüber, sodass in letzter Konsequenz der Vorwurf mangelnder Moral und Solidarität laut zu hören ist.
Es ist eine Idee, sich mal wieder mit den Ursprüngen des Würdebegriffs auseinanderzusetzen, um dann aus der einen und anderen Perspektive unsere Situation zu verstehen, in der wir uns befinden. Das Ziel ist ein gegenseitiges Verständnis für uns. Die immer noch gegenwärtigen Beschimpfungen und Diffamierungen, die Ausgrenzung und die Beleidigungen sollten unbedingt aufhören.